Wenn man auf Twitter folgendes liest, werde ich zumindest etwas stutzig:
#Postprivacy zerstört Masken von Menschen. Damit müssen wir umgehen lernen. Wir sind halt alle nichtperfekt. (@tante)
Das ist als ob man mit einer dicken Wumme auf Stubenfliegen zielt. Seit meinem letzten Post zu Liquid Identity sind einige Tage ins Land gezogen, doch möchte ich ein paar Kernelemente aufgeifen:
- Es ist richtig, das unperfekte am Menschen festzustellen und als Normalzustand anzuerkennen.
- Es passt irgendwie nicht gleich von zerstörten Masken zu sprechen, man sollte lieber ein paar Schritte weiter denken:
- Eine liquide Identität bedeutet ein gesellschaftliches Zugeständnis an die Vielseitigkeit der menschlichen Daseinsform abseits von starren, einförmigen Identitäten
- Anstatt von "Doppelleben" zu sprechen sollte man lieber von lediglich verschiedenen Daseinsformen sprechen, die man als verantwortungsvoller Mensch auch in sich selbst ergründen, begreifen und den Umgang mit diesen auch pflegen und üben sollte. (Dies hat nichts mit Schizophrenie zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand und der Anerkennung eines facettenreichen Individuums an Stelle einer starren, linearen Identität)
- Wem wir welche Seite unserer Selbst offenbaren, obliegt uns selbst und der jeweiligen Situation. Bei einer Gerichtsverhandlung bin ich für gewöhlich ganz anders "drauf" als auf einer wilden Party in meinem Hackerspace. Es braucht den Leuten im Gerichtssaal nichts anzugehen wie ich mich auf der Party gebe und umgekehrt. Deren anderen Facetten haben mich auch erstmal nicht zu interessieren.
- Es wäre eventuell nötig das Wort Privatsphäre neu zu besprechen, denn seine bisherige noch sehr bürgerliche Prägung scheint auf jeden Fall nicht mehr aktuell zu sein. In dieser etwas altmodischen Definition von Privatsphäre geht es um zwei Pole; privat und öffentlich. Dazu wird dann auch gerne definiert was privat sein darf und was öffentlich sein darf. Es drängt sich mir ein gar strenges Korsett im Geiste auf.
- Privatheit bedeutet für mich einfach das Recht gewisse, auch wechselnde Facetten meiner Selbst zeigen zu dürfen, während ich andere verborgen halten kann, ohne dass jemand dies hinterfragt. Ich steige ja auch keinem hinterher. Hier geht es auch viel um neue Definitionen von Höflichkeit und einem gesunden Umgang miteinander.
- Wenn Teile eines Menschenlebens, die eigentlich zu einem gewissen Zeitpunkt lieber "verborgen" sein sollten, doch durch Versehen oder Arglist eines Dritten unerwartet zu Tage treten, liegt es an der Vernunft der sozialen Umgebung diese Facetten mit Ruhe und bedacht entweder zu ignorieren wenn dies angemessen scheint, oder mit Fassung zu tragen.
- Da eine starre, und auch lineare Identität hier von mir in Frage gestellt werden, ist es auch nötig zu erkennen das niemand einer wie auch immer gearteten "Perfektion" in der Realität entsprechen kann. Ich denke hier an Scheinwelten in Lebensläufen und Vorstellungsgesprächen etwa. Hier finden Maskeraden statt, die des aufgeklärten Menschen nicht mehr würdig sind. Es ist Kasperletheater im feinen Zwirn.
- Wenn wir also in der Lage sind Menschen mit all ihren Facetten erst zu tolerieren, dann zu akzeptieren und später vielleicht zu erwarten, wird es auch schwieriger Menschen erpressbar zu machen. Ich rede hier nicht von großen Missetaten die aufgedeckt werden können, sondern eher von Erpressungsversuchen mit Nacktbildern oder einem unfreiwilligen Outing etwa.
- Es muss in diesem Zuge auch anerkannt werden, dass Sex einfach nun wirklich endlich einmal ein Teil des Menschseins gesehen wird und kein Grund für ein wie auch immer geartetes öffentliches Brimborim. Sei es als Skandal oder was auch immer. Menschen ficken. Menschen machen kinky Sachen wenn ihnen danach ist. Deal with it oder halt die Fresse. Ja es klingt selbstverständlich Sex als menschlich zu sehen, aber schaut euch mal diese ganzen Kasperletheater um Sex an. Theater machen ist nicht etwas als normal behandeln sondern unverhältnismäßig aufblasen oder unterdrücken. Albern.
- Trotz aller Offenheit muss es jedoch einem Individuum gestattet werden mal mit Dingen hinterm Berg zu halten. Weil sie oder er sich so wohler fühlen. Das sollte dann auch nicht als Geheimniskrämerei verstanden werden sondern als Comfort Zone. Ich zeig ja auch nicht jedem meine Gläsersammlung, weil es einfach nicht wert ist, jedem alles potenziell zu zeigen. Es gibt viele Dinge die sind einfach unabhängig der Sache einfach mein Bier. Basta. Vielleicht denk ich morgen anders und will dafür eine andere Sache für mich behalten.
- Irgendwie sind wir doch alles geistige Formwandler die sich sehr geschickt je nach Situation wunderbar anpassen können.
- Bezüglich nicht-linearer Identitäten spreche ich hier vor allem von Lebensläufen die eben nicht mehr dem Schema F entsprechen können/wollen und einfach anders sind als das Bilderbuch der alten Gesellschaft von uns verlangt. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass dies begriffen und verstanden wird. Warum sag ich das überhaupt?
Du sagst es im Prinzip selbst:
AntwortenLöschen"Irgendwie sind wir doch alles geistige Formwandler die sich sehr geschickt je nach Situation wunderbar anpassen können."
Wir erscheinen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich.
Postprivacy ändert das keineswegs, es ist nur so, dass ein jeder auch andere Facetten von mir sehen kann. Damit umgehen zu lernen ist eben auch Teil einer Postprivacy Entwicklung.
Das "zerstört Masken" war also wirklich zu drastisch. Die Maske kann man behalten, es können nur alle dahinter gucken.