Es gibt zwei Arten von Spießern. Die einen wollen konservative Werte beibehalten und schränken sich selbst damit ein. Die Anderen wünschen sich einen besseren Umgang miteinander um sich gegenseitig weniger einzuschränken.
Ja, ich bin ein Spießer geworden. Hab eine Drei vor meinem Alter und die Sturm und Drang Phase habe ich ebenfalls hinter mir gelassen. Dies macht mich jedenfalls nicht weniger abenteuerlustig oder phantasievoll. Ich gehöre sicher nicht zu den Leuten, die ab einem gewissen Alter nicht mehr ihre Science-Fiction Bücher lesen, da das doch nur Traumtänzerei der Jugendjahre wäre, oder nur noch in gedeckten Farben durch die Straßen huschen um ja nicht gesehen zu werden. Allerdings habe ich mit der Zeit einen kleinen Spießer in mir aufwachsen sehen. Vor allem, wenn es um Rücksicht auf andere Menschen in dicht gedrängten Situationen geht. Sei es im öffentlichen Verkehrsmittel oder auf einer Party. Wo viele Menschen aufeinander hängen, da kann nicht jeder wie er will. Leider werden die Menschen gerade in dieser Situation manchmal maßlos rücksichtslos. Sie schreien sich gegenseitig an, anstatt normale Gespräche zu führen. Kopfhörer scheinen out zu sein, denn man möchte seinen Musikgeschmack mit anderen Leuten teilen. Ich habe sogar jüngst ein älteres, sehr gepflegt daherkommendes Pärchen beobachten dürfen, welches tatsächlich auf dem Handy der Dame irgendwelche Aufzugdudelmusik hörte. Laut. Die Menschen scheinen im Umgang miteinander in der Masse ungehemmter und zwangloser zu werden. Das umherschwirrende Ego setzt sich gegen den Rest der dicht gedrängten Welt durch.
Andererseits setzen sich derzeit sehr konservative Wertvorstellungen in manchen Köpfen und einigen Massenmedien wieder durch. Der gute Scotty beschreibt diese schleichende Verspießerung am Beispiel des WDR sehr anschaulich. Family Values, schön deutsch und mit einem Hauch Adenauer-Ära, werden zurzeit wieder besonders liebevoll behandelt. Achja. Genauso erschreckend, ist die schleichende Rückkehr von Homophobie bei Jugendlichen (!). Für jemanden, der den größten Coming-Out-Boom in den Neunzigern mit all seinen rosa Puscheln zur Entstaubung der öffentlichen Denke mitbekommen hat, dem wird nun angst und bange. Und ich dachte, das 21. Jahrhundert wird die Ära der ruhigen Aufgeklärtheit. Stattdessen werden die Menschen immer abgeklärter.
Ich komme nicht umhin zu sagen, dass die stacheligen Spießerwerte nun auf dem Vormarsch zu sein scheinen, während die schönen, rücksichtsvollen und wirklich wertvollen Gesellschaftsregeln für eine große Masse der Gesellschaft scheinbar immer unwichtiger werden. Dies ist für mich ein Zeichen dafür, dass zu viel in dieser Welt vom Faktor „Leistung“ abhängig gemacht wird. Was genau ist das genau? Wertfrei ist es das, was man als Individuum wohl zur Gesellschaft beiträgt. Leistung wird auch gerne mit Arbeit gleichgesetzt. Wer was leistet, geht arbeiten und hängt nicht zu Hause herum und macht sich einen lauen Lenz. Schönes, gelbes Banangengewäsch. Dabei sehe ich Leistung in einem etwas anderen Licht. 1. Wer viel Arbeitet, kann durch seine Tätigkeit sehr kontraproduktiv wirken. 2. Wer keine Lohnarbeit verrichtet, aber sich kulturell oder sozial engagiert, vielleicht ein Ehrenamt hat oder im Internet eine interessante Seite betreibt, ist kreativ und trägt dazu bei, dass Andere etwas von der Existenz dieses zwar arbeitslosen aber ungeheuer produktiven Menschen haben. Von einer sturen Arbeitsbiene in der Abmahnanwaltskanzlei kann man das nicht behaupten.
Interessant ist allerdings, dass es im nerdigen und geekigen Umfeld eine Besinnung auf alte, bürgerliche Werte gibt. Nämlich die die sich um das Thema Privatheit drehen. Bemühungen um die Stärkung des Datenschutzes, des persönlichen Freiraums und des Zusammenhalts zwischen den Menschen um auf demokratischer Ebene was zu gestalten, das sind eigentlich nicht sehr radikale, rebellische Ansinnen. Priaten, CCC und ähnliche Gruppierungen sind trotz der sehr modernen Ansichtsweisen bezüglich Internet, Computerwelt und Ausdrucksformen eigentlich urbürgerliche Vereine und Partei. Satzungen werden befolgt, ausgelegt und diskutiert, Tagesordnungen und Protokolle sind alltäglich. Hier sehen wir, dass scheinbar trockene, konservative Funktionsweisen auch für produktive und progressive Zwecke gebraucht werden. Diese Bewegung ist in meinen Augen das probate Mittel gegen die negative Verspiesserung die heutzutage um sich greift. Wir müssen denen zeigen, wie es richtig geht. Mit Respekt , Herz und Verstand plus einem guten Sinn für Fortschritt die dem Menschen dient und nicht nur einzelne Egos und Geldbeutel füllt.